Bots beherrschen keine Kunst des Schweigens
Wohin geht die Automatisierung der Unternehmenskommunikation?
Gespräch mit Clarissa Haller, Leiterin Unternehmenskommunikation, Siemens AG
Data PR und Künstliche Intelligenz – in der Unternehmenskommunikation bei Siemens sind sie längst angekommen. Realtime Topic Surfing und Influencer Listening gehören zur gelebten Praxis im Siemens Newsroom. Wohin die Reise in Sachen Automatisierung weiter geht und welche Rolle dabei Bots und Voice First Strategien spielen könnten, darüber sprach ich mit Kommunikationschefin Clarissa Haller.
Frau Haller, in Ihrem Kommunikationsmanifest, das auch auf Ihrem LinkedIn-Blog steht, haben Sie einige Prämissen für die Kommunikationsarbeit von Siemens beschrieben. Dabei heben Sie auch die wichtige Rolle von Innovation, Daten und Data-PR hervor. Was verstehen Sie genau darunter?
Daten spielen eine immer größere Rolle für unsere Arbeit. Anhand von kontinuierlicher Datenanalyse sehen wir heute in Echtzeit, was die Themen sind, über die gesprochen wird. Wir erkennen Trends, beliebte Hashtags oder Stimmungen. Diese Daten landen in Echtzeit in unserem Newsroom und wir können sofort reagieren und auf bestimmte Entwicklungen eingehen. Der Umgang mit Daten und ihre intensive Nutzung hat unsere Arbeit bereits deutlich verändert – und dieser Prozess wird auch noch weiter gehen.
Wenn wir heute sehen, dass eine Diskussion in eine bestimmte Richtung läuft, prüfen wir, ob man das mit einem unserer Themen sinnvoll verbinden kann. Das ist inzwischen ein recht kreativer Prozess, da wir das heutzutage nicht mehr nur in Form eines langen Artikels tun müssen. Wir wägen ab, ob wir ein Print- oder Video-Statement dazu abgeben, ein Interview oder eine Info-Grafik rausschicken – und manchmal spielen wir auch mit verschiedenen Möglichkeiten. Das folgt keinem strikt vorgegebenen Prozess mehr. Wir experimentieren mehr und messen dabei auch kontinuierlich den Erfolg.
Was können Sie denn heute schon messen, und welche Rolle spielt künstliche Intelligenz dabei?
Wir haben heute eine weitgehend automatisierte Reputationsanalyse. Wir sehen genau wie sich die Einstellungen gegenüber Siemens und seinen Produkten verändern und wir können bei einzelnen Peaks sofort herausfiltern, was diese Entwicklung verursacht hat.
Ähnliche Informationen haben uns die klassischen Reputationsanalysen auch früher schon geliefert – allerdings nicht so detailliert. Außerdem kamen sie mit großer Zeitverzögerung bei uns an und der Ressourcenaufwand war enorm. Die Automatisierung hat einiges erleichtert und moderne Algorithmen haben auch die Fehlerquote deutlich gesenkt.
Wie verändert sich die Arbeit der Kommunikatoren durch einen datengetriebenen Newsroom?
Das ist schon eine ganz neue Qualität von Arbeiten! Früher bestand unsere Arbeit vor allem darin, Inhalte zur Verfügung zu stellen und zu verteilen – und das war es dann auch schon. Heute hat sich die Bedeutung unserer Arbeit viel stärker darauf verlagert, was danach kommt! Das Kuratieren und Kommentieren von Inhalten.
Wenn zum Beispiel unser CEO Joe Kaeser etwas postet, besteht unsere Aufgabe oft darin, die Diskussion, die daran anknüpft, zu moderieren und zu begleiten. Da kommen die verrücktesten Kommentare, die wir dann richtigstellen oder zumindest einordnen müssen.
Sie sprechen die wachsende Bedeutung von Influencern wie Herrn Kaeser in den sozialen Medien an. Wenn man sich die nackten Follower-Zahlen etwa auf Twitter anschaut, dann haben klassische Printmedien wie die FAZ noch deutlich höhere Auflagen. Auch die Followerzahlen sowohl von @FAZ_Net als auch von @Siemens und @siemensmediarelations sind deutlich höher als die von @joekaeser. Wie entsteht der Reichweitenvorteil?
Wenn Sie das so sehen, haben Sie natürlich recht. Die Followerzahlen sind höher. Aber die Frage ist ja, was mit den Tweets passiert. Wie hoch ist das Engagement, wie sehen Retweets und Kommentare dazu aus? Und da sehen wir, dass die Reaktionen auf die offiziellen Siemens Accounts eher passiv sind. Der Inhalt wird gesehen, aber nur wenige reagieren darauf. Wenn es dann um Diskussionen oder Retweets geht, dann erzeugen Influencer wie Joe Kaeser oder auch unsere anderen Vorstände eine ganz andere Resonanz. Es macht einfach einen Unterschied, wenn die Menschen sehen: Da steht eine Person dahinter.
Journalisten werden auch weiter wichtig bleiben. Aber sie sind nicht mehr die einzigen Multiplikatoren. Natürlich bieten die klassischen Medien weiterhin viele Vorteile. Es gibt dort einen Kontext, eine Form der Qualifizierung.. Das schätzen wir nach wie vor sehr, aber wir gehen damit flexibler um. Nehmen wir einmal die Debatte um die Frage: Soll oder darf Herr Kaeser nach Saudi Arabien fahren? Noch vor zwei Jahren hätten wir wahrscheinlich ein großes exklusives Interview mit einer Tages- oder Wochenzeitung gemacht. Heute haben wir unsere Stellungnahme auf LinkedIn gepostet – und zahlreiche Zeitungen (auch im Ausland) haben das in Teilen oder eins zu eins abgedruckt. Die Zeitungen sind ja auch in Konkurrenz zu einander. Ein Exklusiv-Interview zitieren die anderen Medien nur ungern. Mit einem LinkedIn-Post erzielen wir also eine deutlich höhere Reichweite.
Herrn Kaesers Posts finden ihren Weg immer wieder auch in die Tageszeitung. Das war bei dem Saudi-Arabien-Thema so oder denken Sie nur an die Diskussion, die rund um seinen Tweet gegen die Aussagen von Frau Weidel entstanden ist [Anm. der Red.: Herr Kaeser hatte sich auf Twitter kritisch zu einem ihrer Statements geäußert.]. Wir sind in der glücklichen Lage, dass nahezu der gesamte Siemens-Vorstand in den sozialen Medien aktiv ist. Und damit arbeiten wir inzwischen auch sehr aktiv.
CEOs spielen als Influencer sicher eine Sonderrolle. Für komplexe Corporate-Themen können Sie ansonsten aber keinen der bekannten, reichweitenstarken Instagram- oder You-Tube-Influencer nutzen. Wie sind Sie an das Thema bei Siemens heran gegangen?
Bei Influencern würde ich immer eher auf das Prinzip „Klasse statt Masse“ setzen. Denken Sie an Themen wie Cyber Security, Health Care oder Energy Management – da gibt es eine Vielzahl an spezifischen Influencern. Da ist das Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft.
Wir haben zum Beispiel eine Reihe von sehr erfolgreichen internen Influencern. Wir vereinbaren mit unseren Autoren vorab bestimmte Themen-Korridore. Sie bekommen von uns einen spezifischen, personalisierten Newsflow mit relevanten Blogging-Themen – und die bearbeiten sie völlig selbständig. Die KI durchforstet die Nachrichten und schlägt vor, worüber ein Influencer schreiben könnte. Sie unterstützt die Autoren auch dabei, einfachere Formulierungen zu finden, Nominalstil zu vermeiden oder einfachere Satzkonstruktionen zu wählen. Was früher nur eine Rechtschreibhilfe war, wird durch KI heute zu einem stilistischen, qualitativen Service.
Hinzu kommt natürlich die Offline-Tätigkeit unserer Influencer, etwa bei Veranstaltungen oder Kongressen. Viele sind auch noch im universitären Umfeld tätig. Aber die Erfolge im Blogging sind ermutigend und erzeugen schnell einen Sog, der auch andere anzieht.
Nun sind interne Influencer sicher sehr wichtig. Angesichts des Bedeutungsverlusts der klassischen Medien lohnt es sich aber auch, sich mit den externen Influencern intensiv zu beschäftigen. Was machen Sie da?
Vor etwa eineinhalb Jahren haben wir damit begonnen, das Thema Influencer Engagement zu intensivieren. Natürlich hatten wir herausragende Experten auch zuvor schon auf dem Radar. Inzwischen versuchen wir aber ganz bewusst, diese eher lockeren Kontakte zu intensivieren, indem wir Beziehungen aufbauen und auch pflegen. Wir haben beispielsweise eine Gruppe von etwa 10 bis 15 Influencern zu Themen wie IoT, Digitalization 4.0 oder Cyber Security angesprochen und eingeladen. Ziel dieser Gespräche war unter anderem gemeinsam zu sondieren, wie die Industrie mit ausgewiesenen Influencern zusammenarbeiten kann und wie die Regeln dafür aussehen können. Es soll auf gar keinen Fall so erscheinen, als ob wir Experten zu Propaganda-Zwecken einkaufen wollen – denn das tun wir auch nicht. Zusammen mit diesen Influencern möchten wir nämlich auch Transparenz schaffen, die es so in dieser Form zuvor nicht gab. Im Endeffekt definieren wir gemeinsam das künftige Miteinander. Das Interesse daran war groß, denn selbstverständlich wissen diese Experten auch, dass Siemens an interessanten Themen arbeitet. Das sind Leute, die z.B. Regierungsorganisationen in Digitalisierungsfragen beraten, Unternehmer, Blogger – kurz: Menschen mit sehr unterschiedlichem Hintergrund aber eben klarem Expertenstatus. Wir haben sie also eingeladen, um mit uns zu besprechen, wie so etwas aussehen kann. Spannend sind für diese Zielgruppe exklusive Informationen, wie etwa der Zugang zum Senior Management oder die Einbeziehung in Strategiediskussionen.
Wir saßen zwei Tage zusammen und haben eine Art Manifest erstellt, wie wir zusammenarbeiten wollen. Die Gruppe hat sich als freiwillige Community organisiert – insofern gibt es in dieser Gruppe keine Leistungsanforderungen und entsprechend auch keine Honorarzahlungen. Aber wir übernehmen etwa Reisekosten zu wichtigen Kongressen, von denen wir den Eindruck haben, sie könnten für Influencer wichtig sein – ganz ähnlich wie wir es auch für Journalisten tun. Influencer und Journalisten wollen sich nicht abhängig machen. Sie wollen und sollen solche Beziehungen auch zu anderen Unternehmen pflegen.
Was ist eigentlich der Unterschied zu Blogger Relations, wie wir sie schon seit 10 Jahren betreiben?
Das ist eine ganz andere Form der Beziehung. Es geht um ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Die Influencer bekommen Einsichten, die sie sonst nicht hätten. Sie kommen zu unseren öffentlichen Ereignissen, bekommen aber auch einen guten und ungefilterten Eindruck, was hinter den Kulissen läuft. Wenn wir zum Beispiel Influencer zur Hannover Messe einladen, nehmen sie am öffentlichen Programm teil, sind aber auch hinter den Kulissen willkommen. Sie haben da ihre Arbeitsplätze mitten unter unserem Team und sie bekommen dadurch viel mit, wie Siemens tickt. Die Inhalte, die sie da sammeln, reichen weit über das Tagesereignis hinaus. Und dadurch wird es für beide Seiten interessant.
Ansätze zur Automatisierung von Unternehmenskommunikation werden häufig im Zusammenhang mit Influencer Relations gesehen. Wie geht die Entwicklung der automatisierten Kommunikation weiter? Haben wir in zehn Jahren zum Beispiel Pressesprecherbots?
Bestimmt nicht! In der Unternehmenskommunikation reichen die einfachen Antworten meist nicht. Zu den Themen, die wir diskutieren, muss man einen Kontext herstellen. Man muss sie einsortieren. Das kann kein Bot.
Ich kann mir schon vorstellen, dass Bots zum Beispiel in Call Centern eine große Rolle spielen werden, zum Beispiel bei Fluggesellschaften. Da geht es immer um ähnliche Fragen: „Wollen Sie eine Reise buchen?“ „Wollen Sie Ihr Meilenkonto abfragen?“ Solche Fragen kann man durch sprachgestützte Systeme und KI vorsortieren. Aber wenn es wirklich darum geht, Inhalte zu vermitteln, dann kommt es auf Nuancen an.
Selbstverständlich können diese Technologien bereits heute sehr viel und sie werden bald noch sehr viel mehr können. Aber ich bin überzeugt, dass es technische Grenzen gibt und dass es auch Dinge gibt, die man nicht tun sollte oder möchte. Persönlicher Kontakt ist einfach nicht so leicht zu ersetzen.
Welche Bereiche der Unternehmenskommunikation bieten sich aus Ihrer Sicht für eine weitere Automatisierung an?
In der Kommunikation bieten sich die Arbeiten an, die aufhalten und repetitiv sind. Wir sind beispielsweise gerade dabei, eine neue KI-basierte Bilddatenbank aufzubauen. Früher haben wir Unmengen an Zeit gebraucht, um Bilder anzuschauen und zu taggen. Welche Personen sind zu sehen? Welche Produkte? All das muss hinterlegt sein, damit man ein Bild in einer Datenbank wiederfindet. Diesen Prozess haben wir jetzt durch automatische Bilderkennung weitgehend automatisiert. Ein ähnliches Thema ist bei uns das Version-Control-System. Bei der Veröffentlichung von Quartalszahlen kommt über einen Zeitraum von zwei bis drei Wochen alle paar Stunden eine neue Korrektur. Da schleichen sich gerne Fehler ein. Wenn wir das automatisieren, gewinnen wir nicht nur wertvolle Zeit – wir werden auch qualitativ besser.
Ein weiteres spannendes Beispiel ist Coffee Mug. Viele Kollegen bei uns sagen, dass Sie keine Zeit mehr hätten, sich auf die Suche nach Informationen zu machen. Wir haben jetzt eine Plattform aufgebaut, bei der jeder für sich entscheiden kann, wie viel Zeit er selbst aufwenden möchte, um über Dinge informiert zu werden, die für ihn eine persönliche Relevanz haben. Eine KI stellt für die Nutzer maßgeschneiderte Informationspakete, sogenannte Mugs zusammen: Zum Beispiel über Künstliche Intelligenz, Additive Manufacturing, Future of Work – oder was auch immer sie interessiert. Der Nutzer entscheidet, was in seinem persönlichen Coffee-Mug drin ist. Die Entscheidung für einen „Espresso“, einen „Lungo“ oder einen „Americano“ heißt: wie lange oder wie intensiv will ich mich damit beschäftigen. Das System stellt überdies fest, ob Sie einen Text tatsächlich lesen, und wie lange. Es lernt und optimiert entsprechend laufend das Angebot. Das ist eine Super-Sache.
Wie schätzen Sie die Einsatzmöglichkeiten von Voice in der Unternehmenskommunikation ein?
Ich sehe grundsätzlich einen Trend zu weniger Text. Kommunikation wird immer visueller – und sie wird auch immer mehr voice-basiert. Zum einen nimmt die Aufmerksamkeitsspanne bei vielen Menschen immer mehr ab. Zum anderen lernen die Menschen auch durch die sozialen Medien anders zu kommunizieren. Ich schreibe auf WhatsApp beispielsweise Texte. Meine Kinder verschicken nur noch Sprachnachrichten. Für die ist das Tippen lästig. Hier verändert sich etwas und diese Entwicklungen beobachten wir natürlich genau.
Die Smart Speaker der Plattformökonomie erobern gerade die Haushalte. Was bedeutet das für die Unternehmenskommunikation? Spitzen wir es mal zu: Werden Siri, Alexa und Co zu zentralen Nachrichtenplattformen – auch für uns Unternehmenskommunikatoren?
Das ist ja bereits im Gange. Man steht morgens auf und fragt den Smart-Speaker: „Siri, was gibt es Neues?“ Und Siri, oder Alexa oder Cortana erzählen die wichtigsten News des Tages. Es ist durchaus eine realistische Möglichkeit, dass die großen Plattformen bald auch bei der voice-basierten Nachrichten-Distribution eine starke Rolle einnehmen. Da sind die Entwicklungen aber noch schwer zu prognostizieren.
Was mich aber ehrlich gesagt mehr beschäftigt ist die Frage, ob sich die Menschen immer mehr in technisch generierte Filterblasen einschließen? Wie gehen wir damit um, dass es zu einer immer stärkeren Polarisierung der öffentlichen Debatten kommt? Bereits heute sehen wir, dass es keine echten Diskurse und Auseinandersetzungen mehr über Themen gibt, sondern nur noch ritualisierten Austausch vorgefertigter Meinungen. Das halte ich für eine große Gefahr. Der Verlust der Diskursfähigkeit geht nicht nur uns in der Wirtschaft an. Es betrifft die Politik und das ganze Miteinander in unserer Gesellschaft. Wir diskutieren dies hier auch immer wieder, wenn es um den Einsatz KI-basierter Technologien geht. Welche Verantwortung erwächst daraus und wie wollen wir als Unternehmen damit umgehen? Natürlich wollen wir alle so wenig wie möglich Beschränkungen. Aber letztendlich müssen wir die Rahmenbedingungen setzen – so wie sich auch alle Ärzte auf den Eid des Hippokrates berufen. Etwas Vergleichbares brauchen wir auch für die digitalisierte Kommunikation.
Vielen Dank für das spannende Gespräch.