EFFIZIENTE AUFSICHTSRÄTE
Jobdescription für die Aufseher der Nation
Board Consultant Dr. Florian Schilling
zu Anforderungen an Aufsichtsräte, Kompetenzen, Skills und nötige Effizienzprüfungen
Dr. Florian Schilling ist einer der Pioniere der Corporate Governance in Deutschland und damit auch des Abschieds von der Deutschland AG. Er war in der zweiten Hälfte der 90iger Jahre entscheidend beteiligt an Studien, konzeptioneller Vorbereitung und Expertenauswahl für die von Kanzler Gerhard Schröder im Jahr 2000 berufene Deutsche Corporate Governance Kommission. Seit fast zwei Jahrzehnten ist er Partner von Board Consultants International, einer ersten Adresse für Aufsichtsratsbesetzungen und vor allem die von ihm entwickelten „Effizienzprüfungen“ der Arbeit von Aufsichtsgremien. Daneben publiziert er regelmäßig in der Fach- und Tagespresse zu rechtspolitischen Fragen im Zusammenhang mit Aufsichtsratsarbeit.
Sieber Advisors Partner Rainer Ohler sprach in Frankfurt mit Florian Schilling.
In den letzten 25 Jahren sind die Aufgaben und Erwartungen an Aufsichtsräte stark angewachsen. Die Veränderung lässt sich auch an der Vergütung ablesen: Wo es früher ein Sitzungsgeld und vielleicht den berühmten „Aktionärsrollgriff“ in die Zigarrenkiste gab, werden heute meist angemessene Vergütungen bezahlt. Trotzdem gibt es Immer wieder lebhafte Debatten über die Qualifikation von Aufsichtsräten. Entscheidend dafür sind gestiegene Anforderungen und ein stark gewachsenes öffentliches Interesse an Aufsichtsgremien. Damit wuchsen aber auch Haftungsrisiken und besonders die Reputationsgefahr für Aufsichtsräte.
Herr Dr. Schilling, wenn Sie die Berufungspraxis für Aufsichtsräte von vor 20 Jahren mit heute vergleichen, was sind die großen Unterschiede?
Wir haben eine deutliche Veränderung erlebt. Heute sind professionell begleitete Auswahlverfahren Standard im Dax. Früher dagegen wurden Aufsichtsräte nicht systematisch gesucht, schon gar nicht mit professioneller Unterstützung. Sie wurden vom Aufsichtsratsvorsitzenden oder vom Vorstandsvorsitzenden aus deren Netzwerken ausgewählt und dann von den Gremien berufen.
Die Netzwerke spielen aber doch auch heute noch eine große Rolle, oder?
Ja und Nein. Ja, weil heute immer noch viele Kandidaten aus den bestehenden Netzwerken rekrutiert werden. Aber Nein, weil die Auswahlentscheidung in börsennotierten Unternehmen heute von Nominierungsausschüssen getroffen wird. Das war entscheidend für die Professionalisierung der Auswahl, denn selbstbewusste Aufsichtsratsmitglieder wollen ihrer Verantwortung gerecht werden und haben in den Nominierungsausschüssen für eine deutliche Objektivierung des Verfahrens gesorgt. Da kommen Long- und Shortlist und die Kriterien der Auswahl sehr stark in die Diskussion.
Diese Veränderungen der Corporate Governance sind Folge der Globalisierung der Finanzmärkte…
…ja, auch wachsende internationale Regulierung spielt hier eine Rolle. Viele Veränderungen sind aber auch Folge des gestiegenen öffentlichen Interesses an Themen der Unternehmensaufsicht. Aufsichtsräte erkennen heute auch selbst, dass ihre Aufgaben nicht nur mehr Verantwortung, sondern auch neue Haftungsrisiken mit sich bringen. Haftungsrisiken meine ich hier weniger in juristischer Hinsicht. Viel wichtiger ist die Sorge vor einem massiven Reputationsverlust. Ich habe selbst Fälle erlebt, bei denen sich Kandidaten gefragt haben, ob ein Aufsichtsratsmandat neben dem Hauptamt etwa als CEO nicht zu riskant sei. „Können fünf Prozent meines Engagements vielleicht alles zerstören?“
Das ist ein wichtiger Teil unserer Beratungsarbeit für Aufsichtsräte: Management von Reputationsrisiken. Meist kommt dieses Thema ja erst auf, wenn ein Manager schon Aufsichtsrat ist. Empfehlen Sie deshalb, bei Aufsichtsräten auch auf Kommunikationsfähigkeit und Medienkompetenz zu achten?
Für einzelne Aufsichtsratsmitglieder ist Kommunikationsfähigkeit nach meiner Auffassung kein Kriterium. Für das Unternehmen muss der CEO sprechen, die Vertraulichkeit des Gremiums ist ein wichtiges Element für seine Funktionsfähigkeit. Beim Aufsichtsratsvorsitzenden ist das aber in der Tat heute eine Anforderung, schon im Hinblick auf internationale Investoren. Hier kommt es sehr stark auf das Zusammenspiel von CEO und Aufsichtsratschef an, aber auch auf dessen Kommunikationsfähigkeit. Hilfe bei Reputationsrisiken für einzelne Aufsichtsräte ist aber noch ein ganz anderes Thema. Vielleicht muss ich Sie dazu mal interviewen (lacht…).
Gerne, Herr Schilling. Zurück zu Ihnen: Sie sprechen bei den Entwicklungen, die Sie beschreiben, von den DAX und MDAX Unternehmen. Aber gilt das auch für die anderen Unternehmen, die nicht gelistet sind?
Nein, leider nicht. Die Verhältnisse sind aber auch anders. In vielen, oft auch großen mittelständischen Unternehmen werden immer noch eher Vertrauenspersonen der Unternehmerfamilie in Aufsichtsgremien berufen. Bedenken Sie: Die Firmen gehören den Unternehmern meist allein und ihr weit überdurchschnittlicher Erfolg in der Vergangenheit hat wenig Anlass für Veränderungen geboten. Mehr und mehr Unternehmer in zweiter und dritter Generation erkennen jedoch, dass unabhängige und kompetente Geister in den Aufsichtsgremien einen hohen Wert für das Unternehmen bieten können.
Wie haben die Veränderungen Ihr Geschäft als Berater von Aufsichtsgremien verändert?
Ehrlich gesagt, sie haben unser Geschäft erst möglich gemacht. Wer hat denn vor 25 Jahren eine externe Bestandsaufnahme der Arbeit eines Aufsichtsrates überhaupt für möglich gehalten? Mein Beratungsprodukt Effizienzprüfung ist aus den Diskussionen über die Professionalisierung der Unternehmensaufsicht in Deutschland entstanden. Es ist heute mein Kerngeschäft. Und ich sage mit Stolz: Das ist unsere, eine deutsche Erfindung. Zu Anfang war ich damit Monopolist, heute ist das eine weit verbreitete und akzeptierte Konzeption. Die professionelle Kandidatensuche ist aber in der Tat aus Amerika und England zu uns gekommen. Übrigens: Dort, wo wir eine Effizienzprüfung gemacht haben, beteiligen wir uns grundsätzlich nicht an der Kandidatensuche für den Aufsichtsrat, sonst könnte man uns zurecht Interessenkonflikte vorwerfen.
Was sind für Sie die wichtigsten Qualifikationen und Kompetenzen, die heute jeder Aufsichtsrat erfüllen muss?
Geschäftsverständnis und Persönlichkeit.
Klingt wie eine Selbstverständlichkeit…
…ist es aber nicht. Denn wir stellen bei unseren Effizienzprüfungen fest, dass auch in prominenten Aufsichtsräten viele Mitglieder sitzen, die nach ihrer eigenen Einschätzung und nach der ihrer Peers nicht in der Lage sind, sich ein eigenes Urteil über das Geschäft des Unternehmens zu machen. Oft sind es nur die wenigen ehemaligen Vorstände des Unternehmens, die sich eine eigenständige Beurteilung zutrauen. Ich finde, es ist zu wenig, wenn Aufsichtsräte sich nur auf „Schlüssigkeit des Vortrags“ und „Glaubwürdigkeit des CEO“ verlassen. Aber viel zu häufig ist das die Realität. Deshalb meine Empfehlung: An der Beurteilungsfähigkeit müssen beide Seiten arbeiten: Das Unternehmen durch Information und bessere Auswahl von Kandidaten für den Aufsichtsrat, das Aufsichtsratsmitglied selbst durch eigene Anstrengung.
Und worauf kommt es an beim Thema Persönlichkeit?
Gremien – zumal in Deutschland – sind stark konsensgeprägt. In diesem Umfeld eine kritische Frage zu stellen, den Vorstand herauszufordern, das ist leicht gefordert, aber schwer umzusetzen. Kein Aufsichtsrat möchte bei einer dummen Frage ertappt werden. Keiner möchte den Spielverderber geben. Kombiniert mit der Selbsteinschätzung eingeschränkter Beurteilungsfähigkeit, kann es zu einem konformistischem Rollenverständnis führen. Hier kann nur ein Aufsichtsrat bestehen, der charakterstark, unabhängig und mutig ist. Für mich ist eine Persönlichkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit ein guter Aufsichtsrat, die sich nicht scheut, auch mal eine vermeintlich naive oder dumme Frage zu stellen.
Kein einzelner Aufsichtsrat kann alle Anforderungen erfüllen, die das Gesetz verlangt und die Gesellschaft erwartet. Deshalb gilt für das Gremium, dass die Mischung der Kompetenzen und Qualifikationen die Qualität eines Aufsichtsgremiums bestimmt. Aber die Mischung der Einzelpersönlichkeiten wirkt doch nur, wenn der Aufsichtsrat auch so etwas ist wie ein Team. Ist also die Effizienzbewertung mehr als eine individuelle, auch eine Teambewertung?
Viele Aufsichtsräte sind kein Team. Aber wenn ein starker Aufsichtsratsvorsitzender nach einer Teamleistung strebt, dann ist das möglich. Das Default-Model ist ja, dass der Aufsichtsratsvorsitzende die Themen im Dialog mit dem Vorstandsvorsitzenden „bespricht“ und das Gremium dann – grob gesagt – vor vollendete Tatsachen gestellt wird. Das ist menschlich und bequem, aber auch ineffizient, weil die Fähigkeiten und Kompetenzen der Hochkaräter im Aufsichtsrat ungenutzt bleiben. Hier kann die Effizienzprüfung ein gutes Bild geben und auch eine Chance für eine deutliche Verbesserung eröffnen, wenn der Vorsitzende das will. Manche Investoren achten inzwischen auch auf sowas.
Einige Unternehmen berichten heute sogar in ihren Geschäftsberichten über durchgeführte Effizienzprüfungen…
…ja, was am Anfang – vor 20 Jahren – den Beteiligten wie eine hochnotpeinliche, streng vertrauliche Kommandosache erschien, ist heute für viele Unternehmen Normalität und ein Ausweis für das Streben nach Qualität der Unternehmensaufsicht geworden. Ich höre auch, dass im Dialog zwischen Aufsichtsratsvorsitzenden und institutionellen Investoren dieses Thema immer mehr eine Rolle spielt.
Wenn es so ist, dann müssten Sie doch dafür sein, dass man die Effizienzprüfung im Gesetz verpflichtend macht, oder?
Da bin ich hin und hergerissen. Noch mehr Regulierung in einer jetzt schon überregulierten Unternehmensaufsicht wünsche ich mir nicht. Andererseits sehe ich eine bedenkliche Entwicklung. Meine Klienten sind starke Aufsichtsratsvorsitzende, die Qualität, Effizienz und Verbesserung anstreben. Ihre Aufsichtsräte werden tendenziell immer besser, während schwache Gremien, die von ihren Schwächen nichts wissen wollen, daraus nichts lernen und schwach bleiben. Die Kluft zwischen diesen Unternehmen wird immer größer. Das halte ich für sehr bedenklich.
In Großbritannien hat der Gesetzgeber vor ein paar Jahren eine Verpflichtung zu einer externen Bestandsaufnahme in den Kodex aufgenommen…
…mit der Folge, dass vor allem schwache Boards sich deutlich verbessert haben. Deshalb gab es diese Diskussion auch in Deutschland, aber die Widerstände einiger Platzhirsche waren zu groß.
Gibt es Qualifikationen und Kompetenzanforderungen, auf die Sie als Berater die Unternehmen besonders hinweisen? Digitalisierung und KI sind zum Beispiel Kompetenzen, die nur wenige über 60-jährige erfüllen dürften. Und wie sieht es mit der Vielfalt in Aufsichtsräten aus?
Unternehmen, die professionell mit Beratern suchen, haben meist eine sehr klare Vorstellung, was sie wollen. Aber die Frage, ob ein Aufsichtsrat möglichst divers oder eher homogen sein soll, wird immer wieder gestellt. Die Politik hat das beantwortet und fordert ein hohes Maß an Diversität, möglichst viele Gruppen sollen vertreten sein. Ich sehe das kritisch, empfehle aber ein Modell 2/3 zu 1/3. Zwei Drittel der Aufsichtsräte sollten „Klassiker“ sein, also Personen, die in großen Unternehmen als Vorstände an der Spitze stehend gelernt haben, wie Abwägungsprozesse in vergleichbaren Unternehmen ablaufen. Rund 1/3 können „Exoten“ sein, also Experten in Fächern, die für das Unternehmen besonders wichtig sind, gerne auch Wissenschaftler, Marktexperten oder andere Personen mit Spezialkompetenz. Ich warne vor zu viel Homogenität, aber auch vor zu viel Heterogenität. Die Mischung macht’s.
Besonders anspruchsvoll erscheinen die zahlreichen Anforderungen an Unternehmen, aber auch an Aufsichtsräte im Zusammenhang mit Krisen, ESG, Klimaschutz, Compliance, Gendergap, Lieferketten und so weiter zu sein. Hier werden oft politische Ziele auf Unternehmen abgewälzt und Verantwortung übertragen. Was raten Sie den Kandidaten für Aufsichtsratspositionen in diesem Zusammenhang?
Ich halte es im Grundsatz für verfehlt, dem Aufsichtsrat zum Beispiel besondere Aufgaben im Feld ESG (Environment, Social, Governance) zuzuweisen. Denn bei diesen Kategorien kann es zu ganz erheblichen Zielkonflikten kommen, die ein Aufsichtsrat kaum lösen kann. Aber wir haben heute diese Regelungen und müssen damit leben. Mein Rat lautet: Was gesetzlich gefordert wird, muss man einhalten. Nicht mehr und nicht weniger.
Kann man sich eigentlich zu einem guten Aufsichtsrat fortbilden lassen? Ist ein Zertifikat eine Qualifikation?
Aufsichtsrat ist kein Lehrberuf, dessen Kompetenz man sich in Kursen oder Seminaren aneignen kann. Wer das meint, hat die Rolle nicht verstanden. Vorstand oder Geschäftsführer in einem Großunternehmen ist sicherlich eine erste Eintrittskarte. Also: Werden Sie Vorstand. Oder eben auch ein Experte mit einer spezifischen Fachkompetenz, mit der Sie einen Aufsichtsrat bereichern können. Ganz ehrlich: Einen anderen Weg sehe ich nicht, auch wenn das heute viele meinen.
In welchem europäischen Land ist es Ihrer Ansicht nach besonders attraktiv Aufsichtsrat zu sein?
Ich habe den Eindruck, in den Niederlanden und Großbritannien. Das hat aber nicht nur rechtliche Gründe, auch kulturelle. In Boards in diesen beiden Ländern finden traditionell offenere und kontroversere Debatten statt als bei uns. Da wird ein „challengen“ des Vorstands eben auch als natürlich oder sportlich gesehen. Wer sich dafür begeistert, der wird als Manager sehr gerne ein Aufsichtsratsmandat in diesen beiden Ländern annehmen. Spannende Aufgaben haben aber auch unsere Aufsichtsräte zu bieten.
Herzlichen Dank, Herr Schilling