DAS GOLDENE ZEITALTER IST VORÜBER
Strafprozesse im Zerrspiegel der Medien
Gespräch mit Rechtsanwalt Prof. Dr. Gerson Trüg, Kanzlei Trüg Habetha, Freiburg
Vielen Angeklagten droht im Strafprozess eine massive Skandalisierung durch die Medien. Mit diesem Problem werden Strafverteidiger immer wieder konfrontiert. Sie müssen dann auch die Medien ins Kalkül ihrer Strategien nehmen. Ursprünglich sollten Medien ein Korrektiv zur staatlichen Macht der Justiz sein, meint Strafverteidiger Prof. Dr. Gerson Trüg. Davon sei aber nicht mehr viel übrig. Viele Mandanten nehmen die Medien nur als eine Vorverurteilungsmaschinerie wahr.
In Ihrem jüngst erschienen Beitrag „Strafverteidigung und Medien“ gehen Sie recht kritisch mit der Leistung der Medien ins Gericht: Das goldene Zeitalter, in dem Journalistinnen und Journalisten einen wichtigen Beitrag zur strafrechtlichen Fallbearbeitung geleistet haben, sei vorüber. Woran machen Sie das fest?
Was die Qualität der Medienberichterstattung über Strafrechtsprozesse anbelangt, kann man eindeutig eine Entwicklung zum schlechteren feststellen. Das betrifft nicht jeden einzelnen Journalisten, aber das System als Ganzes. Gründe gibt es viele. Die abnehmende juristische Kompetenz ist ein Problem, aber auch der Zeitdruck, unter dem viele Redakteure inzwischen publizieren müssen. Der ist für viele herausfordernd. Da muss es notwendigerweise zu Missverständnissen kommen.
Ein typisches Beispiel sind Liveticker aus dem Gerichtssaal. Sie sind in vielen Hauptverhandlungen üblich geworden. Das muss schnell gehen und kann daher nicht immer gründlich überlegt oder gar recherchiert werden. Ein Wortprotokoll ist das nicht, als solches wird es aber oft verstanden. Im deutschen Strafverfahren gibt es, wie sie wissen, nach wie vor keine Dokumentation des gesprochenen Wortes im Gerichtssaal – ein großes Manko, womit wir in Deutschland übrigens das Schlusslicht in Europa sind.
Viele Beschuldigte im Strafverfahren entscheiden sich angesichts einer drohenden Skandalisierung, immer häufiger für die Diskretion obwohl sie materiell-rechtlich durchaus aussichtsreiche Positionen hätten. Ist das ein Trend: Vermeidung des Rechtswegs im Gerichtsaal, aus Angst vor dem Gerichtssaal der Öffentlichkeit?
Das ist in der Tat eine Einstellung, die ich bei zahlreichen Mandanten beobachte. Im Zweifel entscheiden sich Betroffene lieber für einen schriftlichen Strafbefehl (ohne Hauptverhandlung) aus Angst vor der medialen Berichterstattung. Die Belastung einer Hauptverhandlung ist extrem. Viele Prozessbeobachter sehen gar nicht, dass das existenzbedrohend werden kann: Ein Wirt beispielsweise, dem angebliche Hygienevergehen vorgeworfen werden, muss – im Falle einer öffentlichen Hauptverhandlung – fürchten, dass er nach einer medialen Berichterstattung zumachen kann – egal wie das ausgeht. Deshalb ist er im Zweifel bereit, einen inhaltlich falschen Strafbefehl zu akzeptieren. Das ist eine Entwicklung, die ich nicht bereit bin, nur mit einem Achselzucken hinzunehmen. Wir müssen uns vor Augen halten, welche Rolle der Öffentlichkeit im Strafverfahren ursprünglich zugedacht war. Im 19. Jahrhundert wurde die Öffentlichkeit im Strafprozess zu einer zentralen Säule des modernen Rechtsdenkens. Es sollte der autokratischen Macht der Justiz bewusst ein Korrektiv entgegengestellt werden. Die Medien sollten demnach eine Kontrollfunktion übernehmen, damit Recht wirklich im Namen des Volkes gesprochen wurde. Diese Kontrollfunktion der Medien ist heute weitgehend abhandengekommen. Im Gegenteil: Die Medien werden zum Pranger. Und das ist nicht nur schlecht, sondern kontraproduktiv für die Vorstellung eines funktionierenden Rechtsstaats.
Was sind die Gründe für diese Skandalisierungswirkung der Medien?
Wir haben es hier mit einer Reihe von grundlegenden kulturellen Veränderungen zu tun. Die Ursachen sind unter anderem im Kontext der Entwicklung der Mediendemokratie und der Digitalisierung der Medien zu finden: Medien spielen mit kollektiven Emotionen.
Ausgangspunkt ist: Die Bürger können in einem Rechtsstaat grundsätzlich davon ausgehen, dass Strafverfolgungsbehörden ihrer Arbeit mit Recht nachgehen. Es liegt in der Logik des Systems, dass das Vorgehen des Strafverfolgungsapparates Vertrauen geniesst. Das führt aber kehrseitig zu einer gewissen Vorverurteilung der Betroffenen.
Es gibt auch einen grundlegenden Webfehler in unserem Strafverfahren, der diese Vorverurteilungsdynamik bedient. Es können staatsanwaltschaftliche Ermittlungen in Gang gesetzt werden aufgrund der niedrigsten Verdachtsschwelle, die die Strafprozessordnung kennt: Der Anfangsverdacht! Das ist zunächst noch hinnehmbar. Aber wenn Sie beispielsweise bei einem bloßen Anfangsverdacht Durchsuchungsmaßnahmen anordnen, ist das meist unmittelbar sichtbar. Und das ist nicht nur für die Betroffenen schlecht. Der Anfangsverdacht ist wie in einem Hürdenlauf, bei dem die Hürde nur 10 Zentimeter hoch ist. Da springt jeder Staatsanwalt locker drüber. Dass das bereits zu grundlegenden Grundrechtseingriffen führen kann, ist in doppelter Hinsicht schlecht. Auch die Justiz muss schließlich im Laufe der weiteren Ermittlungen immer vor sich selber rechtfertigen: „Wir haben ja schon durchsucht!“
Verteidiger und Journalisten sind keine natürlichen Verbündeten, schreiben Sie. Was meinen Sie damit?
Journalisten haben eine andere Aufgabe als Anwälte – und ich fürchte, das ist vielen nicht klar. Es gibt eine Inkompatibilität der Recherche-Systeme. Das hat viele Facetten. Journalisten müssen Leserinteressen und Auflagen bedienen. Dabei spielen auch Dinge wie der Unterhaltungswert einer Nachricht eine Rolle.
Nehmen Sie das „Victory-Zeichen“ des Vorstands Dr. Ackermann im Mannesmann Prozesses. Das Bild war für die Medien ein gefundenes Fressen. Die damit verbundene Botschaft war aber falsch. Ackermann stelle sich über das Gericht, hieß es, indem er das Urteil vorwegnehme. Der Hintergrund war aber ein ganz anderer. Ungefähr zeitgleich fand in den Vereinigten Staaten ein Prozess gegen Michael Jackson statt. Der hatte vor dem Gerichtsaal das Victory Zeichen gezeigt, weil er damit zeigen wollte, dass er unverwundbar sei. Dr. Ackermann wurde im Gespräch auf die Geste von Jackson angesprochen – und hat sie nachgeahmt. Dieser wichtige Kontext ist allerdings in der Berichterstattung nicht vorgekommen. Der Unterhaltungswert der Geste war einfach zu groß und so ist das Bild von Ackermann mit dem V-förmig erhobenen Fingern zum ikonischen Symbol geworden und in das kollektive Bewusstsein eingegangen, obwohl der Kontext ein ganz anderer war.
Viele Mediennutzer sehen im Gerichtssaal einen mystischen Ort. In der klassischen Tragödie muss der Held am Ende fallen. Viele erwarten das auch im Gerichtssaal von den Angeklagten.
Die antike Tragödie, behandelt eine Sondersituation: Die schicksalhafte Verstrickung eines Protagonisten, der in eine so ausweglose Lage geraten ist, dass sich ein unaufhaltsames Schicksal an ihm vollzieht: Der tragische Held scheitert am Ende (in der Tragödie übrigens nicht selten unverschuldet und aufgrund von Intrigen). Manchmal habe ich das Gefühl, dass genau das inzwischen zur zentralen Erwartungshaltung an den Gerichtssaal geworden ist, so als gebe es hier einen Automatismus, dass der Held am Ende fallen muss. Das ist natürlich nicht so.
Für viele Medienvertreter scheint aber eine gute Story nur dann vorzuliegen, wenn man über „Fehltritte von denen da oben“ schreiben kann, die zu Fall gebracht werden. Da haben wir eine Erwartungshaltung wie in der klassischen Tragödie. Der Fall des Helden ist aber kein Wesensmerkmal des Strafprozesses! Im Gegenteil: Eine nicht kleine Zahl an Wirtschaftsstrafprozessessen endet mit Freispruch oder mit Verfahrenseinstellungen. Ich würde mir wünschen, dass alle Journalisten sich das bewusst machen. Diese Möglichkeit ist von Anfang an da und sie ist nicht unwahrscheinlich. So sollten auch alle an ihre Berichterstattung herangehen. Es ist ein Wesensmerkmal des Strafprozesses, dass jemand freizusprechen ist, wenn seine Schuld nicht bewiesen werden kann – wir nennen das auch die Unschuldsvermutung. Und die sehe ich bei viel zu wenigen Journalisten.
Viele Mediendebatten erscheinen einseitig, weil Journalisten von der Staatsanwaltschaft oft einseitig mit Informationen versorgt werden. Was läuft da schief?
Es gibt viele Gründe, warum Staatsanwälte die Nähe der Öffentlichkeit suchen. Politischer Druck oder Karriereinteressen mögen hier eine Rolle spielen. Zunächst einmal sollten hier drei Aspekte voneinander unterschieden werden.
Erstens einen gibt es nach den Landespressegesetzen Auskunftsansprüche der Öffentlichkeit an die Staatsanwaltschaften und Gerichte – und daraus gehen Auskunftspflichten dieser Behörden hervor. Das ist allerdings nicht bundeseinheitlich geregelt – was ich immer wieder anmahne.
Ein großes Problem ist zweitens, dass inzwischen viele Journalisten über Aktenkenntnis verfügen. Das ist eine relativ junge Entwicklung seit etwa 10 Jahren: In allen wirtschaftsstrafrechtlichen Prozessen werde ich von Journalisten mit konkretesten Fragen konfrontiert, die Aktenkenntnis voraussetzen. Es gibt also Leaks auf unterschiedlichen Seiten: Der Staatsanwaltschaft aber auch von Strafverteidigern – was ich sehr kritisiere, weil es oft auch rechtlich fragwürdig ist. Wir erleben in diesem Graubereich eine Dynamisierung.
Drittens stört mich auch die wachsende Tendenz zum Televising. Begonnen hat das mit der Verhaftung des Post-Vorstands Zumwinkel. Ähnliches erleben wir immer wieder. Wenn vor dem Erscheinen der Staatsanwälte zur polizeilichen Durchsuchung bereits die Kamera-Teams da sind – dann wollte jemand die Skandalisierung. Das ist eine schlechte Entwicklung. Die sollte umgekehrt werden.
Immer mehr Unternehmen und Top-Manager nutzen die Möglichkeiten der Litigation-PR – in Ergänzung zur anwaltlichen Beratung – wenn es darum geht, die Reputation zu schützen oder um ein positives Meinungsklima zu schaffen. Wie sehen Sie das?
Litigation-PR ist ein weiter Begriff. Wenn ich mir als Strafverteidiger zusammen mit Medienprofis und Presserechtlern eine Strategie zurechtlege, die ich integriert nach draußen bringe – parallel zur Kommunikation der Staatsanwaltschaft – dann würde ich das eine „offensive Litigation-PR“ nennen. Das finde ich eigentlich sehr gut nachvollziehbar, weil ich ein Freund von kraftvoller Verteidigung bin. Die Frage ist aber: Auf wen ziele ich hier ab? Um wen geht es hier? Wenn ich die Öffentlichkeit erreichen will, ist das ein guter Ansatz! Die Öffentlichkeit wird dann gezwungen, genau zuzuhören.
Ich muss mir allerdings auch die Frage stellen: Welche Auswirkungen hat das auf das erkennende Gericht? Das Gericht, das am ersten Verhandlungstag in den Gerichtssaal einzieht, hat mit Eröffnungsbeschluss einen hinreichenden Tatverdacht bejaht. Für sie gibt es eine überwiegende Verurteilungswahrscheinlichkeit – mehr als 50 Prozent. Das Gericht muss nun also gleichermaßen belastend und entlastend den „Wahrspruch“ finden. Wenn in dieser Situation der PR-Berater kommt und überall erzählt, er kenne die Wahrheit jetzt schon, dann kann das beim Gericht eine Abwehrreaktion zur Folge haben. Das muss man abwägen bei der Frage: Wie offensiv gehe ich vor.
Feste Regeln gibt es dafür nicht. Es hängt vom konkreten Einzelfall ab. Es geht natürlich immer darum „meine Story“ zu erzählen – bewusst als Gegengewicht zur Meinungsmacht der Staatsanwaltschaft. Wenn man die Möglichkeit hat, dies angemessen und zurückhaltend zu tun, scheint mir das angemessen. Manchmal bekommt man aber den Eindruck, dass man in einem Paralleluniversum unterwegs ist, dass die eigene Sichtweise gar nirgends vorkommt. Dann muss man manchmal auch zu drastischen Mitteln greifen, um sich Gehör zu verschaffen.
Gerade mit Hintergrund-Gesprächen, habe ich positive Erfahrungen gemacht. Die Journalisten hören zu und nehmen zumindest in Betracht, ob die Informationen, die wir ihnen liefern, für ihre Berichterstattung von Belang sind. Und das ist schon einmal eine gute Grundlage.
TAKE AWAYS
5 Thesen zum Strafprozess in dem Medien
In dem jüngst erschienen Beitrag „Strafverteidigung und Medien“ (erschienen 2023 in „Strafrecht in Deutschland und Europa. FS Gerhard Dannecker“, S.863-874) nennt Prof. Gerson Trüg 5 Punkte, die für Strafverteidiger im Umgang mit Medien relevant sind.
- Angeklagt haben oft Angst vor der Skandalisierung durch Medien – und entscheiden sich für juristisch nachteilige Schritte, um eine Hauptverhandlung abzukürzen oder ganz zu vermeiden.
- Verteidiger und Journalisten sind keine natürlichen Verbündeten. Sie verfolgen andere Interessen und haben verschiedene Motivationen. Das muss einem als Strafverteidiger klar sein.
- Von einem Prozess erwartet die Öffentlichkeit oft einen negativen Ausgang: Am Ende muss der tragische Held fallen. Das ist irrational und entspricht nicht der Realität.
- Staatsanwaltschaften betreiben oft eine offensivere Öffentlichkeitsarbeit als das angemessen wäre. Dem sollte man wenn möglich eine eigene Sichtweise entgegensetzen.
- Litigation-PR ist sinnvoll – wenn sie nicht versucht, die Gerichte zu bevormunden, sondern die allgemeine Öffentlichkeit im Blick hat.