DAS ZIEL HEISST SELBSTBESTIMMUNG
Gespräch mit dem Vorstand People & Business Jörg Staff, Atruvia AG
Digitalisierung und Transformation der Lebens- und Arbeitswelt bedingen sich gegenseitig und markieren einen Kulturwandel. Bei der Atruvia AG, dem IT-Digitalisierungspartner Haus der genossenschaftlichen Bankengruppe, gibt es seit eineinhalb Jahren ein neues hochflexibles Zusammenarbeitsmodell. Und das ist nur eine Stellschraube in einem tiefgreifenden Transformationsprozesses. Jörg Staff, Personalvorstand und Arbeitsdirektor, gestaltet den Prozess aktiv mit – und hat dafür gerade auch den Preis „CHRO des Jahres“ erhalten. Im Gespräch erläutert er, worauf es in der Transformation ankommt – auch für Kommunikatoren.
Herr Staff, bei der Atruvia haben das Management Team und Sie einen umfassenden Transformationsprozess in Gang gesetzt. Was würden Sie nach dieser Erfahrung als die wesentlichen Herausforderungen sehen, mit denen Unternehmen es in der digitalen Transformation zu tun bekommen und welchen Einfluss hat das auf die Arbeitswelt?
Wir durchleben als Gesellschaft einen tiefgreifenden Wandel. Die Transformation bei Atruvia war daher ein notwendiger Prozess, der auch gar nicht abgeschlossen ist. Gründe und Ursachen dafür gibt es viele. Denken Sie etwa an den demographischen Wandel, der die ganze westliche Welt erfasst. Wir merken das im Recruiting schon seit geraumer Zeit, aber das eigentliche Problem wird erst in 5 – 10 Jahren auf uns zukommen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand gehen.
Hinzu kommt ein tiefgreifender Technologie-Wandel. Die Stichworte hier sind Digitalisierung, KI oder Robotics. Wenn man den Analysten glaubt, dann werden allein dadurch in den nächsten 10 Jahren je nach Studie bis zu 50% der Jobs verschwinden, beziehungsweise durch neue, völlig andere Jobs ersetzt. Ein Viertel bis zur Hälfte der heutigen Arbeitsplätze wird sich also in den nächsten 10 Jahren massiv verändern. Das bedeutet unter anderem, dass wir einen grundlegenden Skill-Shift brauchen. Eine wesentliche Voraussetzung, damit das gelingen kann, ist das lebenslange Lernen. Wir müssen eine grundlegende Neugier bei den Menschen fördern, eine Offenheit, sich immer wieder auf neue Themen, Technologien und Arbeitsweisen einzulassen. Und natürlich müssen wir Möglichkeiten anbieten, sich ständig weiterzuentwickeln.
Schließlich erleben wir auch, dass sich das Werteempfinden der Menschen verschiebt – gerade auch bei der jungen Generation. Heute stehen andere Fragen für die Menschen im Mittelpunkt: Nachhaltigkeit, die Verbindung von Arbeit und Leben. Für die Menschen wird es immer wichtiger, was ein Arbeitgeber in ideeller Hinsicht bietet: Ist das Unternehmen nachhaltig? Leistet, das was ich tagtäglich tue, einen Wertbeitrag über das Ökonomische hinaus?
Was heisst das konkret: Wie wird die Arbeitswelt der Zukunft aussehen? Kommt die totale Freiheit, wie es viele New-Work-Romantiker vorhersagen?
Ich denke nicht, dass es nur eine Form geben wird, wie wir Arbeit gestalten, sondern viele verschiedene. Es zeichnet sich beispielsweise ein starker Trend zur Individualisierung ab. Viele Menschen möchten gar nicht mehr unbedingt in einem festen, starren Arbeitsverhältnis stecken. Sie können sich durchaus vorstellen in verschiedenen unterschiedlichen Arbeitsbeziehungen zu stehen und es ist ihnen zunehmend wichtig, sich die eigene Arbeit selbst einzuteilen. Entrepreneurship gewinnt als Lebensform an Bedeutung: Das Ziel heisst Selbstbestimmung.
Das versuchen wir möglich zu machen, zum Beispiel in dem wir die gesamte Human Experience in den Blick nehmen, wie unsere Mitarbeiter das Unternehmen und ihre Arbeit wahrnehmen. Dazu gehört auch, dass wir Arbeit flexibler und selbstbestimmter gestalten: Digitaltarifvertrag, Home-Office, neues flexibles Zusammenarbeitsmodell, flexible Arbeitszeitmodelle sind hier die Stichworte.
Allerdings denke ich, dass es da auch viele Missverständnisse gibt: Neue Arbeitsformen heißt nicht automatisch: Totale Freiheit. In mancherlei Hinsicht ist sogar das Gegenteil der Fall: Das Arbeiten und Leben in Netzwerken, das Experimentieren mit neuen Arbeitsformen erfordert eine viel stärkere methodische Ausrichtung als die klassischen Arbeitsweisen. Man muss sich an bestimmte Takte halten, muss bestimmte Methoden einsetzen und sich an bestimmte Regeln halten. Das erfordert eine neue Stringenz – und das ist eben nicht die totale Freiheit.
Was Sie sagen gilt sicher für den Bereich der Wissensarbeit. Aber Wissensarbeiter sind ja nur ein Teil. Ist die schöne neue New-Work-Arbeitswelt auch auf andere Arbeitsformen übertragbar?
Wenn wir über Individualisierung der Arbeitswelt und Selbstbestimmung reden, reden wir natürlich vor allem über Anforderungen, wie sie eben typisch für die Welt der IT oder des Bankings sind. Hier gibt es viele Mensch, die genauso arbeiten wollen. Aber die Arbeitswelt ist natürlich vielfältiger. Nehmen wir etwa den gesamten Bereich der Basisarbeit in den Bereichen Gesundheit und Pflege, Sicherheit, Logistik oder Handel – von der Pflegehelferin bis zum Kassierer. Im Gegensatz zu anderen können diese Menschen nicht so einfach ins Homeoffice, sondern müssen Tag für Tag an einen Arbeitsplatz kommen, der oft schlechter bezahlt und dafür körperlich fordernd ist. Sie können in der Regel auch nicht durch fancy Lounges motiviert werden. Aber eine lebenslange Work-Life-Balance würde ihnen schon helfen, das Leben selbstbestimmter zu gestalten. Oder denken Sie an das ganze Spektrum der Blue-Collar-Worker – auch hier ist deutlich mehr Eigenverantwortung und Selbstbestimmung möglich, als man denkt. Die Gesellschaft hat sich diesem Bereich einer sich wandelnden Arbeitswelt noch gar nicht richtiggestellt. Aber wie gesagt: Ich glaube nicht, dass es nur eine einzig richtige Form geben wird, wie wir in Zukunft arbeiten werden. Es wird eine Reihe von unterschiedlichen Modellen entstehen, die nebeneinander bestehen.
Was bedeutet das eigentlich im Hinblick auf die Kommunikations- und Führungsfähigkeit? Wie muss ein Top Manager in Zukunft kommunizieren?
Führungskräfte müssen natürlich eine Vorbildrolle einnehmen. Das war schon immer so, spielt aber jetzt eine ganz besondere Rolle, denn Transformation und Digitalisierung gehen ja auch mit einem Kulturwandel einher. Gerade Top-Manager müssen nicht nur erzählen sondern auch vorleben können, wie man zusammenarbeitet und warum das wichtig und sinnstiftend sein kann. Aber darüber hinaus muss ein Manager Kommunikation auch orchestrieren können. Wichtig ist nicht nur, dass man selber kommuniziert, sondern dass man auch andere dazu motiviert, glaubwürdig authentisch und zeitnah über die Veränderungsprozesse zu sprechen.
Zeitgemäße Kommunikation gewinnt dadurch an Glaubwürdigkeit, dass die Beteiligten direkt mit einbezogen werden. Und das muss in so einem Veränderungsprozess natürlich iterativ geschehen. Man kann da nicht immer lange warten. Man muss auch mal Zwischenergebnisse kommunizieren. Da gelten dann Schnelligkeit und Frühzeitigkeit. Glaubwürdigkeit und Authentizität sind dabei wichtiger als das formvollendete Gesamtbild.
Für eine Führungskraft stehen einerseits die harten Fakten im Vordergrund, aber auch die emotionale Botschaft, weil sie eben die Menschen anspricht und mitnimmt. Heute kommt es nicht mehr allein auf den perfekt formulierten Zuckerguss an, den wir über die Fakten legen. Es ist von immer größerer Bedeutung, mit fragilen kleinen Kommunikationspartikeln aus dem Maschinenraum der Arbeit herauszukommen. Das ist dann auch mal unsauber: ein Zitat aus dem Auto heraus, das nicht perfekt und druckreif, dafür aber authentisch ist. Das sorgt für Wiedererkennung bei den Menschen. Das lässt sie erfahren, was Wandel konkret bedeutet und nimmt sie letztendlich mit auf die Reise der Transformation.
Sie haben die große Bedeutung von digitalen Technologien angesprochen. Es gibt aber durchaus auch kritische Stimmen aus ganz unterschiedlichen Lagern. Wie sehen Sie das: Ist die Digitalisierung eher Teil des Problems oder Teil der Lösung?
Eindeutig ein Teil der Lösung. Durch den Einsatz digitaler Technologien kann man Arbeitsprozesse effizienter gestalten, Kosten sparen oder schneller skalieren. Aber das ist für mich eher der uninteressantere Teil an der digitalen Transformation. Durch den Einsatz technologischer Innovationen können wir den Menschen neue Formen der Zusammenarbeit und neue Freiräume ermöglichen, die sie für einen kreativeren Arbeitseinsatz und für die Entwicklung neuer Ideen nutzen können. Und das geschieht auch ganz real. Aber auch die Kritik ist natürlich berechtigt: Der Einsatz digitaler Technologien führt zu ganz neuen Anforderungen an die Menschen. Das betrifft nicht nur den Wandel der Nutzer-Skills. Es geht auch um die Bereitschaft, das eigene Wissen ständig weiterzuentwickeln und auch mit der ständig anwachsenden Menge an Wissen umzugehen. Die Anforderungen an die Anpassungsfähigkeit, aber auch an die Reaktionsgeschwindigkeit der Menschen steigen. Und schließlich verändern die neu entstehenden Mensch-Maschine-Beziehungen auch den psychosozialen Horizont der Menschen – nicht immer nur zum Besseren. Denken Sie etwa an Phänomene wie Zoom-Fatigue, Screen-Addiction oder die wachsende Zahl an psychischen Erkrankungen, wie z.B. Burn-Outs. Auch da werden wir sicher Einiges neu kalibrieren müssen. Aber aus der Corona-Pandemie haben wir mindestens eines gelernt – wie sehr digitale Technologien helfen können, unser Leben kraftvoller, effektiver und selbstbestimmter zu organisieren. Ich muss sagen: Das hat mich sehr ermutigt.
Das Gespräch führte Armin Sieber