Riss in der Selbstdarstellung –
wie kann man Authentizität trainieren
Von Armin Sieber
Auf einer längeren Zugfahrt wurde ich neulich Zeuge folgender Szene: Ein Zuggast hielt minutenlang mit ausgestrecktem Arm das Smartphone vor sein Gesicht und beobachtete sich selbstvergessen auf dem Screen. Er übte unterschiedliche Gesichtsausdrücke ein – grimmig, komisch, dominant – und fotografierte sich zunehmend fasziniert selbst, um seine eigene Mimik vergleichen und optimieren zu können. Ist diese minutelange Selfie-Show in aller Öffentlichkeit nur skurril oder ein interessanter Fall von öffentlichem Narzissmus?
Narzissmus kann zu einem Problem für die Authentizität von Menschen werden. Alles, was vom Wesenskern eines Menschen abweicht, was inszeniert, aufgesetzt, angelernt und einstudiert wirkt, kann unauthentisch wirken und daher für die Reputation schädlich sein. Der Narzisst ist der dauernde Darsteller seiner selbst und hat ein übertriebenes Bedürfnis nach Bewunderung. Das geht mit einer stark aufgeblähten, unrealistisch positiven Selbsteinschätzung, mit Selbstzentriertheit, Berechtigungsdenken und mangelnder Rücksichtnahme einher. Die Welt ist seine Bühne und wie jeder Schauspieler lebt er vom Beifall und der Bewunderung.
Im Top Management und speziell in der Marketing- und Medienbranche mit ihrem Hang zur Selbstdarstellung und Selbstüberhöhung ist Narzissmus weit verbreitet. Auch wenn dieses Verhalten die Selbstzufriedenheit des Narzissten stabilisiert, als sympathischer Wesenszug wird es selten wahrgenommen. Dabei geht es nicht nur darum, dass man ständig Selfies schießt wie unser Zugreisender. Die Wurzeln liegen tiefer: Narzissmus ist die Kehrseite von einer tief im Inneren versteckten Unsicherheit. Viele Menschen nehmen das deutlich wahr. Für sie entsteht hier eine deutlich sichtbare Authentizitätslücke – ein Riss in der Selbstdarstellung, der irritiert und bisweilen abstößt.
Medien beeinflussen unser Wertsystem
Jeder von uns handelt als Schauspieler in verschiedene Rollen, das ist bis zu einem gewissen Grad normal. Dabei überprüfen wir ständig, ob wir unseren selbstgesteckten Anforderungen gerecht werden – ob unsere schauspielerische Performance stimmt. Dabei sind viele dieser Anforderungen gar nicht selbstbestimmt. Wir haben Sie uns angeeignet, ohen es zu wissen. Die Medien spielen dabei ein große Rolle. Sie liefern Vorbilder, an denen sich immer mehr Menschen orientieren. Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten gilt das Größere mehr als das Kleine und das Außergewöhnliche mehr als das Durchschnittliche. Erfolg, Wohlstand, Schönheit, sexuelle Erfüllung – daran messen sich die Menschen tagaus tagein. Die massenhafte Präsenz von fragwürdigen Werten, die für die meisten von uns unerreichbar sind, frustrieren auf die Dauer. Das macht viele Menschen entweder depressiv – oder eben zu Narzissten. Narzissmus wird so gesehen zu einer typischen Gegenstrategie zur Unsicherheit und Unzufriedenheit.
Das eigene Wertesystem finden
„Bei sich sein“ ist ein gutes Gegenmittel. Während Narzissmus der unbewusste Versuch ist, gegen innere Unsicherheiten anzugehen, bedeutet „bei sich sein“ das genau Gegenteil: Die Überwindungen von Unsicherheit und innerer Zerrissenheit indem man in sich hinein hört und sich fragt, was einen Wert für sich selbst darstellt und welche Ängste das eigene Handeln beeinflussen. Selbstreflexion und Achtsamkeit können zur Stärkung des Selbst beitragen. Sie helfen, Fremdbestimmtheit zu erkennen und das Rollenspiel seiner Selbst abzubauen.
Das schreibt auch der Münchner Philosoph Michael Bordt: „Die Selbstwahrnehmung (…) ist die Voraussetzung für eine freie Entscheidung darüber, mit welchen Gedanken und Gefühlen ich mich identifizieren möchte, und welche ich mir im Gegenteil nicht zu eigen machen möchte.“ Bewusste, quasi achtsame Selbstwahrnehmung kann zu einer Entdramatisierung von Angst, Stress, äußeren und inneren Druckfaktoren führen. Sie kann aber auch dazu beitragen, das eigene Wertesystem deutlich zu machen. Immer mehr Menschen helfe ich in meiner Beratungstätigkeit bei dieser Entwicklung. Menschen, die in der Öffentlichkeit klar positioniert sein wollen, müssen sich über ihre Werte im Klaren sein – und damit sind nicht zwingend Werte in einem moralischen Sinn gemeint. Es geht darum, was einem selbst im Leben wichtig und wertvoll ist und was daher einen Wert darstellt. Authentizität beginnt damit, dass man sein eigenes Wertesystem kennt – und achtsam damit umgeht.
Trainingsprogramm für mehr Empathie
Diese Achtsamkeit sollte man aber nicht nur sicht selbst sondern auch anderen entgegenbringen – zum Beispiel, in dem man wirklich zuhört, was andere sagen. Wie oft dient ein Gespräch nur als Leinwand zur Selbstdarstellung. Viele achten nicht auf den Gesprächspartner, sondern darauf, was sie als nächstes selbst sagen wollen – ein typisches Problem in Gesprächssituationen. Achten Sie einmal in einem Ihrer nächsten Gespräche darauf, wie erstaunlich wenig echte Kommunikation darin oft vorkommt. Dazu gehört nämlich nicht nur die Kunst des Sprechens sondern auch die des Zuhörens. Verbundenheit gegenüber einem Gesprächspartner einzuüben, wird zu einer neuen Disziplin, die man trainieren kann, wie einen Muskel: Am Anfang ist es mühsam, aber dann wird es von mal zu mal einfacher.
Hier möchte ich nur ein paar Punkte skizzieren, wie so ein Trainingsprogramm für mehr Empathie aussehen kann:
- Bevor wir zu geschäftlichen oder privaten Termin gehen, können wir beispielsweise darüber nachdenken, welche Neuigkeiten oder Geschichten uns diese Menschen bei letzten Mal, als wir sie getroffen haben, von sich selbst erzählt haben. An diese Punkte können wir im Gespräch anknüpfen. Martina erzählte von einem neuen Vorgesetzten, für den sie seit einigen Tagen arbeite. Jochen hatte ein wichtiges Vorstellungsgespräch. Markus wollte im Urlaub nach Mauritius fliegen. Bringen Sie diese Punkte wieder ins Gespräch, unterbrechen sie ihren Gesprächspartner nicht. Geben sie nicht der Versuchung nach, das Gespräch als eine Selbstdarstellungsbühne zu betrachten. Lassen sie ihn/sie ausreden, gehen sie auf sie ein.
- Wenn Sie jemand zum ersten Mal treffen, versuchen sie etwas über die Person in Erfahrung zu bringen: Hat sie einen Blog? Welche Themen beschäftigen sie, wozu hat sie sich geäußert. Schreiben sie die wichtigsten Punkte auf und fragen sie nach. Schreiben Sie mindestens 5 Fragen auf, die sie stellen können. Ehrliches Interesse beeindruckt die Menschen. Es zeigt ein Form der Wertschätzung, dass sie sich auf seine Themen einlassen und sich vorbereitet haben. Vor allem trainiert man dabei auch, aus der Enge narzisstischer Selbstdarstellung auszubrechen.
- Versuchen sie Ihr Gegenüber als gleichberechtigten Partner zu sehen und zeigen Sie sich auf einer Wellenlänge. Vermeiden Sie es, den Gesprächspartner zu belehren oder „von oben herab“ zu behandeln. Das kann durch Gesten und durch die Sprache geschehen, etwa durch zu komplexen Satzbau oder zu dominante Argumentation. Auch Fachjargon oder zu viele Anglizismen sind zweischneidig: Sie zeigen zwar Kompetenz und Zugehörigkeit zur Branche, können aber auch ausgrenzen und überheblich erscheinen. Hier hilft zuhören und lernen, wie der Gegenüber spricht und behutsames Anpassen des Sprachlevels. Schauen Sie dem Gesprächspartner dabei auch immer wieder an, lassen Sie sich nicht durch andere Dinge ablenken. Nichts schadet der Wertschätzung mehr, als wenn man nebenher in Dokumenten oder im Handy liest.
- Greifen Sie die Argumente des Gesprächspartners auf aber bewerten Sie diese nicht: Trennen Sie stets objektiv prüfbare Beobachtungen und subjektive Bewertungen. Vermeiden Sie Kritik. Wenn Menschen etwas hören, das nach Kritik klingt, dann neigen sie dazu, ihre Energie in die Verteidigung oder in einen Gegenangriff zu stecken. Versuchen Sie Ihre Anliegen als berechtigten Wunsch darzustellen – dadurch steigt die Bereitschaft, auf Ihre Bitte seinerseits empathisch einzugehen.
Zu all diesen Punkten haben Kommunikationstheoretiker und -Trainer von Watzlawick über Schultz von Thun (Transaktionsanalyse) bis zu Rosenberg (Gewaltfreie Kommunikation) und die NLP Schule eine Fülle von verschiedenen Modellen und Methoden entwickelt, mit denen man sich je nach Anwendungsschwerpunkt und persönlichen Vorlieben gerne vertieft auseinandersetzen kann. Wichtig scheint mir im Hinblick auf die Authentizitätsfrage vor allem eines: Eine grundsätzliche Bereitschaft, sich am Gesprächspartner zu orientieren – und nicht nur an sich selbst. Das wirkt wie eine Immunisierung gegen narzisstische Tendenzen und trägt dazu bei, dass man wesentlicher, einfühlsamer, selbstloser erscheint. Die Überwindung der eintrainierten Selfie-Show hilft nicht nur im privaten Leben – es macht einen auch beruflich wirkungsvoller.