JUSTIZSHOW FÜR DIE MASSEN:
DEUTSCHLAND BRAUCHT KEINE SAMMELKLAGEN NACH AMERIKANISCHEM VORBILD
Gespräch mit Rechtsanwalt Dr. Michael Zoller, Managing Partner der Kanzlei Wirsing, Hass, Zoller
Brauchen wir in Deutschland Sammelklagen nach amerikanischem Vorbild? „Selbstverständlich“, meinte der Wirtschaftsanwalt Andreas Tilp vor einiger Zeit hier in meinem Blog. „Auf gar keinen Fall“, so antwortet nun der Spezialist für Bank- und Kapitalmarktrecht Dr. Michael Zoller. Ich sprach mit dem anerkannten Münchner Profi über Anlegerklagen, eine Verschärfung des kollektiven Rechtsschutzes – und einer damit einhergehenden Verschärfung des Kommunikationsklimas in den Medien.
Im Zusammenhang mit Dieselgate und ähnlichen Skandalen ist in der Öffentlichkeit der Ruf nach einer Verschärfung des kollektiven Rechtsschutzes lauter geworden. Brauchen wir in Deutschland Sammelklagen nach amerikanischem Vorbild?
Auf gar keinen Fall. Das führt aus meiner Sicht dazu, dass wir noch mehr Trittbrettfahrer bei solchen Schadensfällen bekommen, als wir es ohnehin schon haben. Die Tendenz zur Skandalisierung von echtem oder vermeintlichem wirtschaftlichem Fehlverhalten ist sowieso schon stark ausgeprägt. Mit Instrumenten wie der Sammelklage im Rücken wäre die Versuchung für die Anwaltsindustrie groß, komplexe Probleme des Bank- und Finanzrechts in völlig überzogener Weise in die Medien zu bringen. Bereits heute versuchen viele Anwälte bei ihren Mandanten Hoffnungen zu wecken, die sich so am Ende fast nie einlösen lassen. Und das würde sich mit einem Massenklageinstrument noch deutlich verschärfen.
In Deutschland werden Instrumente zur kollektiven Rechtsdurchsetzung traditionell eher kritisch gesehen. Angesichts der zunehmenden Zahl von Wirtschaftskriminalität spricht aber eigentlich nichts dagegen, den Rechtsschutz zu verbessern. Nehmen wir etwa die Situation von Anlegern in den vielen Prospekthaftungsfällen. Gerade Kleinanleger haben bei einer Klage gegen Kapitalmarktbetrüger wenig Chancen. In Amerika könnten sie viel leichter von sogenannten „class actions“ profitieren.
Da gebe ich Ihnen völlig Recht. In der Praxis ist es allerdings bei den meisten Prospekthaftungssachverhalten so, dass um eine Formulierung auf der Seite 58 des Prospekts gestritten wird, weil sie von einer Formulierung auf der Seite 78 in Nuancen abweicht. In der Sache hat sich aber kein einziger Anleger von diesem Prospektfehler zur Zeichnung verleiten lassen. Das deutsche Rechtssystem ist aber so angelegt, dass die Beweislast für die Widerlegung der Ursächlichkeit eines solchen Fehlers im Hinblick auf die Anlageentscheidung beim Beklagten liegt. Es ist in der Praxis aber oft unmöglich, diesen Beweis dann auch tatsächlich zu führen. Oder um es mal auf gut deutsch zu sagen: Vom Himmel herab fällt eine Schadenersatzberechtigung, auf die sonst keiner gekommen wäre, auf die aber jede Menge Trittbrettfahrer aufspringen.
– die dann aber keine realistische Chance auf Umsetzung hat?
Eben schon. Die Frage ist doch aber: Ist es sachgerecht, einem Prospektfehler ein solches Gewicht zu geben, wie es die deutsche Rechtsprechung im Moment tut. Da die deutsche Rechtsprechung im Moment aber sowieso schon anlegerfreundlich ausgestaltet ist, ist es im Grunde ein Leichtes, eine solche Prospekthaftungsklage durchzubringen.
Der konkrete Prospektfehler war für die meisten Anleger aber völlig irrelevant. Nur durch das Geschick der Anlegeranwälte kann er nun dazu ausgenutzt werden, Mandanten zu generieren. Das ist meiner Meinung nach eine nicht sachgerechte Wiedergutmachung eines eingetretenen Vermögensschadens, weil es dem Anleger im Zeitpunkt des Erwerbs um völlig andere Fragen, völlig andere Informationen und völlig andere Ziele ging.
Sie sagen, die Gesetze und die dazu ergangene Rechtsprechung seien anlegerfreundlich. Ihr Kollege Andreas Tilp hat in diesem Blog die genau gegenteilige These vertreten: Der Gesetzgeber schützt in Deutschland eher die Industrie als den Geschädigten.
Da bin ich komplett anderer Ansicht. Sie werden in jedem Prospektmaterial an irgendeiner Stelle einen Fehler finden und einige Richter davon überzeugen können, dass der Prospekt an dieser Stelle präziser hätte formuliert werden müssen. Das gilt insbesondere dann, wenn sie ex post mit der Informationssuche des Internets bestimmte Sachverhalte ausgraben, die aber ex ante betrachtet völlig irrelevant waren. Da möchte ich Herrn Tilp gerne widersprechen. Anlegeranwälte sind von der Ausgangssituation her in einer extrem komfortablen Rechtsposition.
Das Einzige, was vielen Anlegern in der Tat Probleme bereitet, sind die Verjährungsfristen. Sie müssen sich verhältnismäßig schnell entscheiden, ob sie ihre Rechte geltend machen wollen oder nicht.
Heißt das, dass sie einer automatischen Verjährungshemmung zustimmen, die ja nicht einmal das reformierte KapMuG (Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz) in der Form vorsieht?
Nein. Das KapMuG oder andere Massenklagewege tragen jetzt schon dazu bei, dass an sich sachgerechte Verjährungsfristen ausgehebelt werden. Wer sich an einem solchen Massenverfahren anschließt, kann im positiven Fall Ansprüche zu geringem oder gar keinem Kostenrisiko geltend machen. Wir sehen es jetzt schon bei diesem Gesetz: Das KapMuG ist ein Reklametool in den Händen der Anlegeranwälte. Es hilft einer Klageindustrie – mehr Rechtssicherheit bringt es nicht.
Worin liegt denn die Gefahr einer Klageindustrie nach amerikanischem Vorbild, wie Sie es nennen?
Die Gefahr liegt meines Erachtens darin, dass es immer weniger kompetente Berufsträger oder Wirtschaftsprüfer gibt, die bereit sind, bei solchen Kapitalanlageprodukten, die ja hochkomplex sind, noch mitzuwirken. Von den großen zehn WP-Gesellschaften haben sich fast alle aus diesem Geschäft zurückgezogen. Es kommen ständig neue Sachverhalte im Zusammenhang mit Kapitalanlageprodukten hoch, die Kompetenz in der rechtlichen Bewertung nimmt hingegen ständig ab. Wir haben es mit immer mehr, vorsichtig gesagt, Berufsanfängern zu tun, weil sich viele renommierte Berufsträger aus Sorge vor der Haftung überhaupt nicht mehr trauen, bei diesen Dingen mitzuwirken. Die Kompetenz erodiert – und das ist weder im Sinne des Anlegers noch des Emittenten.
Seit geraumer Zeit gibt es sowohl in Deutschland als auch in Europa Überlegungen, Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes zu verschärfen. Der Bundesrat hat vor einigen Tagen die neue Musterfeststellungsklage gebilligt. Sie tritt zum 1.11.2018 in Kraft. Was kommt da auf Industrie und Verbraucher zu?
Also ich halte von dem deutschen Entwurf überhaupt nichts, weil er letztendlich die Dinge wieder nur auf die lange Bank schiebt. Das sind ja Feststellungsklagen und keine Leistungsklagen. Das heißt es wird abstrakt eine Rechtsfrage über Jahre hinweg durch die Instanzen gejagt und bis dann tatsächlich in so einer Feststellungsklage ein Leistungsurteil ergeht, sind die Richter, die sich ursprünglich mit dem Fall befasst haben, schon im Ruhestand. Deswegen ist aus meiner Sicht das europäische System, das im Moment diskutiert wird, besser, da es auch sofort in der Sache Leistungsansprüche vorsieht.
Allerdings hat das auch eine Industriepolitische Seite. Man muss sich schon überlegen, inwieweit man Risiken weiter auf die Industrieseite verschieben will – denn sie sind jetzt schon nicht gering. Durch die geplanten Sammelklage-Instrumente würden sich die Kosten für Unternehmen drastisch erhöhen. Wir haben vorher am Beispiel der Prospekthaftungsklagen schon besprochen, wie wenig sachgerecht diese Klagen oft sind. Aber es betrifft ja jeden, der seine Produkte an Verbraucher vertreibt und damit potenziell Haftungsklagen ausgesetzt ist. All diese Risiken müssen von Unternehmen kontrolliert und gemanagt werden. Wenn es dann mal schiefgeht und man dann künftig kollektiv von vielen Leuten in Anspruch genommen werden kann, wird es teuer für ein Unternehmen, hier in Deutschland Geschäfte zu machen – definitiv ein Standortnachteil.
Aber wenn Sie mich fragen, welches System ich im Moment für sachgerechter erachte, so würde ich weder das KapMuG noch die deutsche Musterfeststellungsklage nennen. Beide führen zu einer extremen Verlangsamung dieser Verfahren. Es stört mich sehr, wie lange diese Instanzen sich hinziehen, bis man hier endlich mal zu einer verbindlichen Entscheidung kommt.
Wenn man die Entwicklungen in Amerika oder in Ansätzen auch bei uns verfolgt, muss man ja mit einer erheblichen Veränderung der öffentlichen Diskussionskultur durch Massenklagen rechnen. Im Fall von Dieselgate oder auch bei den Kartellschadensersatzklagen haben Anwaltskanzleien große Werbefeldzüge unternommen, um Anleger hinter sich zu scharen. Komplexe Rechtsfragen werden plötzlich zum Gegenstand breiter öffentlicher Debatten. Führt das eher zu einer Demokratisierung oder zu einer Trivialisierung von juristischen Fragestellungen?
Sie kennen die Medien besser als ich: Da stehen nicht immer juristische Feinheiten im Vordergrund sondern plakative Aussagen. Es ist auch nicht grundsätzlich verkehrt, wenn man komplexe Themen auf einen allgemein verständlichen Kern reduziert. Es kommt aber darauf an, wie man das macht. Mit einer Justiz-Show für die Massen ist jedenfalls niemandem geholfen
Nehmen wir doch die öffentliche Diskussion nach der Lehman-Krise. Das ist jetzt 10 Jahre her. Die Finanz- und Bankenbranche hat sich aber von dem schlechten Image immer noch nicht erholt. Schwarz-Weiß-Malerei hat eine ganze Branche beschädigt und auch diejenigen Marktteilnehmer getroffen, die versuchen, seriös und ordnungsgemäß ihre Dienstleistung zu erbringen. Ein paar schwarze Schafe machen die ganze Herde schwarz. Wenn Massenklagen zu massenhaft undifferenzierter Berichterstattung führen, dann hilft das niemandem. Außer Ihnen vielleicht – denn Ihre Dienste sind dann noch mehr gefragt: In Sachen differenzierter Darstellung von komplexen Wirtschaftsthemen ist noch viel Luft nach oben!