Renaissance der Rede. Fünf Erkenntnisse zur Krisenkommunikation der Münchner Polizei
Im Juli 2016 kam es in München zu einem Amoklauf – und das Kommunikationsteam um den Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins wuchs vor den Augen der Welt über sich hinaus. Der Bundesverband deutscher Pressesprecher verlieh ihm dafür den Sonderpreis Pressesstelle des Jahres 2016. Beim Kommunikationskongresses hatte ich die Chance im Rahmen eines Panels mit Herrn da Gloria Martins über diese kommunikative Herkulesaufgabe zu sprechen. Dabei ergaben sich eine Reihe von Erkenntnissen, viel Lob – aber auch Ansätze für Verbesserung.
Rennen um die Hoheit der Bilder
Gegen 17.50 tritt der 18 jährige Deutsch-Iraner David Sonboly aus der Filiale eines Schnellrestaurants im Norden Münchens und eröffnet das Feuer auf Passanten. Das Chaos bricht aus, der Terror scheint nun auch die bayerische Metropole erreicht zu haben. Die Polizei reagiert schnell und umfassen: Die Polizeiführung zieht an diesem Freitag Abend alle Reserven in kürzester Zeit in der Landeshauptstadt zusammen. Die ersten Stunden der Krisenkommunikation bei der Polizei waren hingegen vom Ressourcenmangel bestimmt. Der Pressesprecher Marcus da Gloria Martins selbst war zuhause, als ihn der erste Notruf erreichte. Die Batterien seines Handys waren leer, der Chef unerreichbar. Die Pressestelle arbeitete im Notdienstmodus – kein guter Start.
Parallel dazu zog das Ereignis in den Sozialen Medien längst seine Kreise. Die Schießerei war von einem Passanten vor Ort gefilmt und das Video ins Netz gestellt worden. Während der Pressesprecher noch zu Hause saß und für seine Tochter das Abendessen machte, hatten die Bilder des um sich schießenden Amokläufers bereits über What’s App tausende Menschen erreicht. Dieses Video bestimmte die erste Welle der Kommunikation – ohne dass die Polizei auch nur die geringste Chance zur Einflussnahme hatte. Die erste Runde ging an What’s App.
Die zweite Runde der Kommunikation übernahm ein Passant mit dem Avatarnamen „Jack Daniels“, der fast die ganze erste Stunde nach der Tat vor Ort live von den Ereignissen berichtete – in der Rolle eines Bürgerjournalisten. Sein Live-Stream wurde über den Internetdienst Periscope verbreitet – und sogar von einigen Nachrichtendiensten übernommen. Jack Daniels heizte die Gerüchteküchte erst so richtig an. Während sich Polizei und Medien noch die Augen rieben, erreichte seine ungefilterte Live-Berichterstattung zehntausende Menschen im Internet. Dieser bislang beispiellose Fall zeigt, dass eine Kontrolle der Bilder in einer solchen Situation in Zukunft immer schwerer wird. Das Rennen um die Hoheit der ersten Bilder – hier ging es verloren.
Soziale Medien werden zum Leitmedium
Während man also in der Pressestelle der Polizei München noch verzweifelt versucht, Gerüchte von Fakten zu trennen, wird die Öffentlichkeit von einem Informationstornado überrollt. Im Internet wird praktisch jedes Gerücht aufgegriffen und als bare Münze tausendfach weiter gegeben. Das führt nicht nur zu einer massiven Desinformation und Verunsicherung bei der Bevölkerung. Gerüchte und Panik beginnen nun zunehmend die Ermittlungsarbeit der Polizei zu erschweren. Plötzlich ist von Schießereien an allen Ecken der Stadt die Rede. Die Polizei muss von einer Katastrophenlage nach dem Muster von Paris ausgehen – und buchstäblich jedem Gerücht nachgehen. Am Ende des Tages erwiesen sich 65 Meldungen über Schießereien und Geiselnahmen als gegenstandslos. Das Informationschaos beschäftigte die Polizei allerdings stundenlang und behinderte die Ermittlungen erheblich. Während tausende Polizisten in der Innenstadt ein Phantom jagten, lag der Amokläufer bereits tot einer Seitenstraße – er hatte sich selbst das Leben genommen.
Die Kommunikation tat indess das einzig richtige: Sie nutzte die sozialen Medien in vorbildlicher Weise zur Aufklärung, zur Warnung, zum Dementieren von Gerüchten, zur Deeskalation in mehreren Sprachen. Zu Gute kam hier, dass man in München bereits ein halbes Jahr zuvor anlässlich einer ähnlichen Situation an Silvester via Twitter die Bevölkerung erfolgreich informiert hatte. Ein Muster lag also vor – und die Bevölkerung nahm es dankbar an.
Medien im Echtzeitdilemma
In solchen Situationen haben Bevölkerung und Journalisten eines gemein: Sie werden beide zu Getriebenen der sozialen Medien – nur daß Journalisten nicht der Versuchung nachgeben dürfen, jedes Gerücht für bare Münze zu nehmen. Wenn eine Bombe hochgeht, wenn ein Amokläufer unterwegs ist, gibt es auch in den Redaktionen eine „Chaosphase“. Dann ist erst mal nichts klar, man kennt keine Hintergründe und muss auf alles gefasst sein. Erst allmählich klären sich die Dinge. In dieser Zeit regiert der Konjunktiv und schweigen ist oft die bessere Variante.
Für die Bevölkerung steigert dieses Schweigen allerdings noch die Unsicherheit. Während die Menschen händeringend nach verlässlichen Informationen suchten, boten die Medien in der Chaosphase entweder gar nichts oder die selben Gerüchte, die schon von Twitter und Co bekannt sind. Gewissheiten konnte hier niemand liefern, Medien und Mediensprecher sitzen im selben Boot als Getriebene der sozialen Medien. Im Echtzeitdilemma können Medien nur hinterher laufen. Ihre Stunde schlägt erst Stunden oder Tage später – dann wenn es um minutiöse Aufarbeitung, um Bewertung, Einordnung und Qualität geht.
Zusammenarbeit ist alles
Für die Kommunikationsabteilung sind die ersten Stunden einer solchen Krisenlage primär ein Ressourcenproblem. Im Falle der Münchner Polizei waren viele im Wochenende und schwer erreichbar. Es dauerte Stunden, bis das Team einigermaßen schlagkräftig im Einsatz war. Bis dahin ist jede Hand wichtig: Ob Pressesprecher der Feuerwehr oder vom Deutschen Roten Kreuz – buchstäblich jeder, der freiwillig helfen konnte, war willkommen. Noch prekärer zeigte sich die Situation in der Social-Media-Abteilung. Angesichts von tausenden Posts war an ein geregeltes Abarbeiten kaum zu denken. Hier müssen in der Krise flexible Ressourcen hinzugezogen werden können. Dabei zeigt sich ein Problem, das wir aus der Krisenkommunikation bereits seit längerem kennen: Die Stärke eines Social Media Teams erweist sich auch auf der Zeitschiene. Im Auge des Informationstornado muss man mit der Ermüdung von Teams rechnen – und für Ersatz sorgen. „Unsere Social Medias,“ meint Marcus da Gloria Martins, „hätten wir nach ein paar Stunden kopfüber in die Ecke stellen können.“ Da schwingt kein Vorwurf sondern Respekt mit.
Die Polizei kennt selbstverständlich Krisenszenarien, auf die sie sich regelmäßig kommunikativ vorbereitet. Simulationstrainings werden aber in Zukunft noch viel stärker als bisher die Schnittstellen beachten: Das betrifft die Zusammenarbeit mit anderen Behörden genauso, wie die Integration von externen Eingreiftruppen, auf die man ein noch größeres Augenmerk werfen dürfte, als man es sowieso schon getan hat.
Renaissance persönlicher Kommunikation
Der Erfolg von Krisenkommunikation hat mit Prozessen, Planung und Ressourcen zu tun. Irgendwann kommt aber der Moment, indem jeder Pressesprecher vor die Medien treten muß – egal wie die Informationslage ist. Gegen 20.45 Uhr schlug die Stunde von Marcus da Gloria Martins: Authentisch und klar vermittelte er, was die Stadt in dieser Situation dringend benötigte: Ruhe! Er gab weiter, was es bis zu dem Zeitpunkt zu sagen gab. Er setzte in den Kontext, erklärte Zusammenhänge, machte in klarer und bildhafter Sprache deutlich, was man nach knapp drei Stunden wissen konnte – und was eben nicht. Nicht mehr und nicht weniger. Das war ehrlich, glaubwürdig und hat der Kommunikationsbranche gezeigt, warum Authentizität auch im Zeitalter digitaler Medien nach wie vor ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist. Das macht angesichts der zunehmenden Debatten über Communication 4.0 Mut und es zeigt, welchen wichtigen Beitrag Pressesprecher nach wie vor leisten können.