SHOOTDOWN IM STRAFPROZESS
Gespräch mit Rechtsanwalt Christian T. Stempfle, ReedSmith, erschienen am 3.5.2021
Strafverteidigung ist Kampf. Kampf um die Rechte der Beschuldigten mit Organen des Staates, die Ihr Machtmonopol oftmals überschreiten – so sehen es viele Strafverteidiger und so verstehen sie ihre Rolle. Richter und Staatsanwälte nehmen dies naturgemäß anders wahr. Sie sehen sich selbst als Opfer wachsender Aggression im Gerichtssaal. Das OLG Brandenburg führt dazu aktuell eine Umfrage unter Richtern durch. Wie ist es um den Strafprozess bestellt? Steht eine Überarbeitung des Strafprozessrechts an? Und wer muss in Zukunft vor wem beschützt werden? Darüber sprach ich mit dem Strafverteidiger Christian T. Stempfle.
Die Berliner Zeitung berichtete unlängst über eine Umfrage unter Richtern, die das angeblich wachsende Aggressionspotenzial in deutschen Gerichten untersucht. Die Rede ist von zunehmender psychischer und physischer Gewalt im Gerichtssaal. Herr Stempfle, als Strafrechtsprofi kennen Sie die Szene. Trauen Sie sich noch in den Gerichtssaal?
Ja sicher [lacht]. Die Nachricht über die Umfrage hat unter den Strafrechtskollegen für einige kontroverse Reaktionen gesorgt. Der Bericht in der BZ ist allerdings etwas überzogen. Ich fürchte, das muss man zunächst einmal etwas einordnen: Es handelt sich dabei um eine Umfrage, die der Präsident des Brandenburgischen Oberlandesgerichts für die Arbeitsgruppe „Zukunft des Strafprozesses“ in Auftrag gegeben hat. Ziel der Umfrage ist es, herauszufinden, ob und in welchem Umfang Störungen des äußeren Ablaufs der Hauptverhandlungen bei den Strafgerichten auftreten. Dabei geht es um Verhalten, das auf eine Störung des Ablaufs gerichtet ist, wie etwa Beleidigungen, Schreien, Drohungen oder eigenmächtiges Verlassen der Hauptverhandlung.
Dass Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte im Gericht regelmäßig Drohungen ausgesetzt wären, davon kann ich nichts berichten. Aber ganz risikolos ist der Strafprozess nicht: Vor anderthalb Jahren saß ich am Amtsgericht Dachau auf dem Stuhl, auf dem am 11. Januar 2012 während der Sitzung in einem Strafverfahren ein Angeklagter einen Staatsanwalt erschossen hat. Das war für mich schockierend. Aber Schüsse im Gerichtssaal sind natürlich eine krasse Ausnahme.
Nun ist das grundsätzliche Setting im Gerichtssaal ja das einer Konfrontation. Die Parteien im Gerichtssaal sind Streitparteien und dieser Konflikt wird mitunter durchaus heftig ausgetragen.
Das ist sicher so. Da wird mitunter scharf geschossen. Nicht umsonst ist das Motto vieler Anwälte auch: Strafverteidigung ist Kampf. Anders als in einem Zivilprozess oder in einer verwaltungsrechtlichen Auseinandersetzung findet ein Strafprozess unter besonderen Kautelen statt. Das Klima ist dort ein anderes als im Zivilprozess. Da spielt immer eine Vorverurteilung mit. Das macht insbesondere die psychische Situation für die Angeklagten schwierig. Da gehen die Emotionen schon mal hoch. Manchmal überschreiten auch Staatsanwälte oder Richter den schmalen Grat der Neutralität. Und das wirft dann für uns Strafverteidiger mitunter schnell die Frage der Befangenheit auf. Aber grundsätzlich leistet die Strafprozessordnung natürlich schon, was sie soll: Sie stellt sicher, dass ein Strafprozess in halbwegs geordneten Bahnen abläuft.
Wenn Sie die Strafprozessordnung ansprechen: Gerade in kommunikativer Hinsicht mutet sie mitunter etwas altmodisch an. Hätte da die Arbeitsgruppe „Zukunft des Strafprozesses“ nicht zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine kontinuierliche Modernisierung des Rechts?
In der Tat – und nicht nur in kommunikativer Hinsicht. Gerade im internationalen Vergleich mutet unser Strafprozessrecht mitunter recht antiquiert an. Nehmen Sie zum Beispiel die Tatsache, dass die deutschen Richter ihre Überzeugung immer noch ausschließlich aus dem „Inbegriff der Hauptverhandlung“ (§ 261 StPO) schöpfen – und dass für die Parteien des Strafprozesses nichts objektiv verschriftlicht wird. Ein Hauptverhandlungsprotokoll, dem man entnehmen kann, was an welchem Verhandlungstag welcher Zeuge oder welche Sachverständige gesagt hat, gibt es nicht. Das wird zurecht von unseren internationalen Partnern immer wieder kritisiert. Als Verteidiger versuchen Sie dann, unter anderem über Beweisanträge in die Akten zu bringen, was sich wirklich abgespielt hat. Die Richter kritisieren dann oft die Masse der Beweisanträge. Die Strafverteidiger machen das aber auch, um sicherzustellen, dass alle in einem für sie zentralen Punkt dasselbe verstanden, gehört und erlebt haben – was eigentlich absurd ist.
Aber daran wird doch ständig gearbeitet. Wir haben doch gerade erst 2017 und 2019 zwei Überarbeitungen der Strafprozessordnung erlebt. Wieso erscheint das deutsche Strafprozessrecht vielen immer noch so provinziell?
Weil nicht an den Grundkautelen gearbeitet wird. Im Vergleich zum Zivilprozess kann man eben nicht anhand eines Verhandlungsprotokolls nachvollziehen, was in einem Strafprozess wirklich gelaufen ist. Was gesagt wurde, was angeschaut wurde, findet ja nicht in verschriftlichter Form statt. Es werden nur die wesentlichen Förmlichkeiten des Verfahrens protokolliert. Es gibt kein offizielles Wortprotokoll. Das macht es natürlich für die Verteidiger wahnsinnig schwierig, wenn es beispielsweise um das Rechtsmittel der Revision geht.
Manche Prozessparteien bringen daher einen eigenen Stenographen/Prozessbeobachter mit. Das hilft aber nur insoweit, als man selber nachvollziehen kann, was gesprochen wurde. Sie wissen immer noch nicht, was auf der Richterbank tatsächlich verstanden wurde. Auch im Falle einer Revision hilft ein Wortprotokoll nur bedingt, da es nicht automatisch zu einem verwertbaren Aktenbestandteil wird. Das ist im internationalen Kontext völlig anders. Angelsachsen sind ein Wortprotokoll gewohnt. Sie erwarten es sogar. Die fallen regelmäßig vom Glauben ab, wenn sie hören, dass es so etwas bei uns nicht gibt. Das ist altertümlich! Ich gebe Ihnen völlig recht: Es wird immer mal wieder an der StPO herumgedoktert. Aber an die wesentlichen Probleme traut man sich nicht heran.
Unser Ausgangsthema war ja „Aggression im Gerichtssaal“. Der Gerichtssaal ist kein isolierter Raum. Öffentlichkeit ist sogar ein wesentlicher Bestandteil des Prozesses. Ich habe durchaus von Richtern gehört, die bei Verfahren von hohem öffentlichem Interesse den Druck aus der Öffentlichkeit verspüren. Manche berichten sogar von Beschimpfungen und Morddrohungen. Wie schätzen Sie das ein? Spielt die Öffentlichkeit bei der Planung und Konzeption einer Prozessstrategie eine Rolle?
Selbstverständlich spielt etwa die Vorberichterstattung eine wesentliche Rolle – insbesondere für den Schutz unserer Mandanten. Was sich im Court of Public Opinion bereits verfestigt hat, das muss man unbedingt berücksichtigen. Was den klassischen Druck von der Straße anbelangt, so würde ich sagen, dass unsere Gerichte dagegen weitgehend immun sind. Klar betrifft es eine Richterin oder einen Richter persönlich, wenn mal was Schlechtes über sie/ihn in der Zeitung steht. Dass sich Richter deswegen in eine bestimmte Richtung leiten lassen, das habe ich so bisher noch nicht wahrgenommen. Für unsere Mandanten ist das allerdings sehr relevant. Bei denen geht es um ihre Reputation.
Müsste man da nicht eher über die „Aggression gegen Beschuldigte“ sprechen?
In der Tat. Beschuldigte sind durch das öffentliche Strafverfahren oft einem erheblichen öffentlichen Druck ausgesetzt. Hier muss man bei der heute gerne stattfindenden staatsanwaltlichen Presseberichterstattung immer wieder zwischen dem wichtigen Prinzip der Öffentlichkeit und dem Schutz der Persönlichkeitsrechte abwägen. Man würde meinen, dass die Justiz dieses Problem, das ja nicht neu ist, gut im Griff hat. Aber das Gegenteil ist oft der Fall.
Nehmen Sie den Fall von Rupert Stadler, dem ehemaligen Audi-CEO. Das ist ein sehr prominentes Beispiel. Dass er inhaftiert wurde, hat mich ehrlich gesagt nicht wirklich verwundert. Es handelt sich hier um ein Verfahren bei der Staatsanwaltschaft München. In Bayern ist leider jeder, der schon mal in Mallorca war, schnell mit dem Haftgrund der Fluchtgefahr behaftet. Es ist schon eine problematische Form der Verwirklichung von Justiz, wenn Manager in einem derart frühen Stadium, in dem noch nicht klar ist, was herauskommen wird, ins Gefängnis gehen. Es gibt nicht umsonst unter Strafverteidigern den Satz: „Untersuchungshaft schafft Rechtskraft“.
Oder nehmen wir einen anderes Beispiel: Denken Sie an den Fall von Sebastian Edathy. Als Vorsitzender des Untersuchungsausschusses hat er wertvolle Arbeit geleistet, um das Versagen von Verfassungsschutz und Ermittlungsbehörden im Zusammenhang mit Ermittlungen in der rechtsextremistischen Szene aufzudecken. Wenige Monate später taucht dann der Vorwurf wegen Besitzes kinderpornographischen Materials auf – ein seltsamer Zufall. Edathy wurde nie verurteilt. Politisch und privat war er durch das Ermittlungsverfahren und den anschließenden Prozess aber ruiniert. Das war ein sehr unschönes Beispiel, wo jemand zu einem sehr frühen Zeitpunkt dafür gesorgt hat, dass über ein Ermittlungsverfahren berichtet wird, das noch nicht einmal angefangen hatte. Für die Medien war das ein gefundenes Fressen.
…Wem sagen Sie das. Wir arbeiten für einige Mandanten, die das Problem genau kennen…
Das denke ich mir. Auch Ermittlungsbehörden spielen hier mitunter eine problematische Rolle. Ich bin oft sprachlos, welche Dokumente in die Öffentlichkeit gelangen, die da nichts verloren haben: Verhörprotokolle, Ermittlungsunterlagen, Email-Verkehr und andere Dinge, die durchgestochen werden. Da gibt es auch noch kein wirkliches Korrektiv. Es ist ein Unding, in einem derart frühen Stadium Dinge durchzustechen, wie es etwa bei Edathy der Fall war – aber auch in vielen anderen Fällen. Das sind Dinge, die sie in der heutigen, digitalisierten und vernetzten Welt nicht mehr zurückholen können. Ich will das jetzt nicht pauschal den Ermittlungsbehörden vorwerfen. Es können auch taktische Interessen der Parteien eine Rolle spielen. Aber ich staune da oft, welche Sachen durchgestochen werden.
Andererseits nehme ich auch eine Professionalisierung der Staatsanwaltschaft wahr. Wenn ich zum Beispiel an die vielen Cum-Ex-Fälle denke – das ist inzwischen ein Musterbeispiel, bei dem die Ermittlungen auf der Managerebene nicht mehr haltmachen. Da sind auch Kanzleien betroffen und auch jede Menge Bankmitarbeiter – das geht inzwischen weit runter.
Es gibt Schwerpunktstaatsanwaltschaften etwa in München und Köln, die mit entsprechend großer Man-Power in den Wirtschaftsstrafverfahren vorgehen. Die schaffen es beispielsweise auch, was früher eher selten der Fall war, internationale Kontakte mit einzubeziehen. Da werden dann über Rechtshilfe Kontakte zu dem Serious Fraud Office in London oder anderswo aufgenommen, um beispielsweise im Vereinigten Königreich Ermittlungen aufnehmen zu lassen oder Beweiserhebungen zu starten. Bei den Staatsanwaltschaften rücken inzwischen auch Leute nach, die moderner ausgebildet sind und auch besser Englisch können. Da gewinnt die Strafverfolgung schon eine neue Qualität. Ob das für unsere Mandanten besser ist – sei dahingestellt.
Christian T. Stempfle ist Partner der Anwaltskanzlei Reed Smith. Als erfahrener Prozessanwalt vertritt er Unternehmen und Manager in streitigen Auseinandersetzungen national und international vor staatlichen Gerichten, in Schiedsverfahren sowie beim Europäischen Gerichtshof und verteidigt Unternehmensvertreter und Unternehmen in Wirtschaftsstrafverfahren, häufig grenzüberschreitend in Zusammenarbeit mit anderen ausländischen Büros von Reed Smith. Christian T. Stempfle verfügt über eine deutsche und eine englische Anwaltszulassung.
Das Gespräch führte Armin Sieber